Dienstag, 30. September 2025

ALTE MENSCHEN.



Alte Menschen wellen sich, welken nach und nach - und manchmal fallen sie einfach so in sich zusammen. Mir gegenüber sitzt einer von jenen, denen die Zeit mit ihrer Großzügigkeit und Gnade entgegenkam. Die kleinen Augen blinken und blitzen noch immer lebendig und mit einem milden Blick durch den langen Gang des Zugabteils. Ein goldener Siegelring steckt umwachsen von weicher Haut an seinem dafür vorgesehenen Finger. Schwarze, schuppige Schiebermütze - eine ausladende Jacke aus künstlichem Leder, olivenfarbige Cordhose sowie der frisch-herbe Geruch von brennendem Rasierwasser sind weitere Kennzeichen. Sein Leben liegt vor mir wie eine eichene, gut verschlossene Truhe. Oder aber eine tief ausgehobene Fallgrube. Wir kennen die Menschen als solche - im Einzelnen bleiben Sie mir jedoch immer ein Rätsel. Das scheint mir auch keine völlig neue Erkenntnis - im Gegenteil: Banales bleibt banal. Es gehört nur eben als solches an seinen angestammten Platz und nicht in ein pathetisches Durcheinander. So bleibt alles in seiner Ordnung und mit ihr fühle ich mich sicher. Von der Geburt hinüber ins Altern, aus dem Kreißsaal heraus katapultiert um sich Jahre später in die Hände pflegender Kettenraucher zu geben. Am Anfang wie am Ende verstummt unser Wille. Oder er wird schlichtweg überhört.

Ein Militär-Psychologe umriss seine seelsorgerischen Künste einmal damit, seinem Klienten folgende Realität zu präsentieren: "Sie werden ein Krüppel bleiben, finden sie sich damit ab"!
Das Mädchen vor mir ist kaum zwanzig Jahre jung. Lange Rastas schlängeln sich aus einer weinroten, wollenen Street-Work-Mütze. Seeblaue, große Augen leuchten wie aus einem klaren Himmel heraus. Das Buch in ihren Händen trägt den Titel "Horror-Stories" und ist gut vier Zentimeter dick. Nebenbei beißt Sie kraftvoll-energisch in einen frühreifen, sattgrünen Apfel.

Mittwoch um 7:44 Uhr. Zwischen den Sitzen ist kein Platz. Breite Ärsche formieren sich, berühren einander und ungeniert dringt das Gefühl intensiver Nähe von Mensch zu Mensch. Es knistert Aluminiumfolie, der Geruch von Banane zementiert die Geruchssinne - es ist Berufsverkehr und nie werden sich fremde Frauen wie Männer näher sein. Die Leberwurst-Schnitte ist mit vier kräftige Bissen verschlungen worden.

Der Morgen hält die üblichen Augenringe bereit. Alte Menschen sehen sich madig und überhaupt in einem seltsamen, fahlem Licht. Um diese Zeit gibt es wenige ganz alte Menschen hier. Vermutlich quälen sich diese gerade aus ihren Steppdecken oder schlurfen durch einen kalten Flur in Richtung Toilette. Mein Großvater hackte früher immer das Holz - noch vor dem Morgengrauen. Später feuerte er den Ofen an, setzte Kaffee auf und raschelte mit der Tageszeitung. Eine mühsame, gute Zeit. Die Finger fast blau vor Kälte, rauchender Atem, kleine Tränen in den Augen. Essenzielle Tage ... wie massiv gezimmert für eine sentimentale Kindheitserinnerung.

Es scheint, als ginge es mit einem U-Boot in die unendliche Tiefe hinab. Stille und Leere überall - einzig das leise Rotieren der Motoren sowie der leichte Trommelwirbel unserer Herzen künden vom Leben. Die Zeit, also jene die uns bleibt, geht in einem ganz unterschiedlichen Tempo vornweg. Alte Menschen (damit schließe ich diesen Text) sollten bestenfalls und aus ganz natürlichen Beweggründen des Lebens müde sein. Dann hat alles seinen Platz.

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