Sonntag, 26. Oktober 2025

GIFT UND GALLE.



"Die saufen, bis es denen aus den Ohren wieder raus schwappt!" Ein gut gealterter Herr läuft eingehängt mit seiner Gattin über die glänzenden Fußwege der bereits abgedunkelten Stadt. Missbilligend fällt sein Blick auf zwei unrasierte Trinker an einem schlecht ausgeleuchteten Eck-Imbiss. Es gefällt ihm nicht, wenn sich die Menschen gehen lassen ... saufen, pöbeln, keinerlei Arbeit verrichten, auf den Bänken lungern, nicht grüßen, den Gehsteig zuparken, Hunde nicht an der Leine führen, die Schaltkästen besprühen, Vorgärten verrotten lassen, die Treppe nicht kehren oder wenn jugendliche Werbemittel-Austräger partout keine Wochenangebote der Discounter in die Treppenhäuser auslegen. Dann zweifelt der hagere, alternde Mann mit der gesellschaftlichen Moral und schimpft so lange, bis ihm der Magen seinen Dienst versagt und grünlich-bittere Galle durch die Speiseröhre empor steigt. Seiner vergesslich gewordenen Frau ist dies einerlei, sie geht diesen Weg mit ihm bis zum Schluss - soweit die Füße sie tragen und solange er sie noch in seinem drahtigen Arm einhenkelt.

Morgen ist der Termin bei der Fußpflege, später die bläuliche Tönung beim Friseur. Brot beim Bäcker ist natürlich bestellt und der Schwatz mit der Briefträgerin längst ein lieb gewonnenes Ritual geworden. Viel passiert in diesem Leben wohl nicht mehr - zumal sich die Zeiten radikal geändert haben. Die übergewichtige, demente Frau neben ihm hat er einmal sehr geliebt ... mit Haut und Haaren. Urlaube auf Usedom, eine Schiffsreise nach Kuba, das erste gemeinsame Auto, ein kleiner Lottogewinn in den Siebzigern, Jubiläen, Betriebsausflüge, runde Geburtstage, Skat-Abende, die politische Wende ... alles mögliche geht ihm durch den Kopf.
Die Zeiten sind wohl vorbei. Das Spiel ist aus. Nichts geht mehr ... auch kein Freiwurf. Lichter in den Fenstern erzeugen keinerlei Gefühl - auch die süßen Kleinen in den modern gestalteten Buggys lassen ihn völlig kalt. Alles was er sieht, ist so seltsam böse mit ihm. Wütend erspäht er die völlig überfüllten Altglas-Container, abschätzig trifft sein harter Blick eine wirklich schöne Frau mit Kopftuch. Deutschland ist ein einziger Haufen stinkenden Drecks geworden, chaotisch regiert, hoch verschuldet und in diesem Leben niemals mehr zu retten. Er erwartet auch nichts mehr, kein Mitgefühl, keine Hilfsbereitschaft - niemanden der ihn noch wahrnimmt. Fast 80 Jahre alt, verheiratet, kinderlos und dabei immer schwer gearbeitet. Natürlich nie geraucht, nie getrunken, keinerlei Schwof, nichts gegönnt und letzten Endes auch alles allein bewerkstelligt. Sein Herz ist ein riesiger, fester Klumpen ... die Hände schon immer etwas zu kalt und der Gang leicht vornüber gebeugt und abgehackt. Seine Frau geht demütig neben ihm her, fast im Gleichschritt. Ihre Augen sind nass und suchen irgendeinen Halt. Sie wird geführt, gelenkt und bleibt in der ihr vertrauten Bahn. Der Kopf muss nichts mehr für sie tun ... hat sich augenscheinlich völlig ausgeklinkt und bereits vorab aus dem Staube gemacht. Alles scheint dadurch vergeben und vergessen.

Ursprünglich sollte der Text an dieser Stelle enden. Es hat aber plötzlich begonnen heftig zu regnen. Die Lichter der Straße spiegeln sich umgehend in der Nässe des Weges, als der alte Herr unvermittelt zu Fall kommt. Auf den Knien landend, losgerissen aus dem laschen Arm seiner Gattin, den irrsinnigen Schmerz spürend. Aus der gegenüber liegenden Apotheke eilt eine junge Frau auf ihn zu, versucht instinktiv unter seine Arme zu greifen und fragt in einem fort ob es so gehe. Da reißt und zerrt der reife Mann an seinem geschlossenen Schirm und haut umständlich auf die Helfende ein. Immer wieder, ohne Kraft und Energie- aber auch ohne Unterlass. Nichts ist verziehen und die Wirklichkeit ein einziger Fausthieb.

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