Na ja ... nun ist dieser heiße Sommer auch schon wieder vorbei. Es gab ja kaum Niederschläge. Eine regelrechte Dürre ist das gewesen ...
Der Herbert hat sich übrigens versucht umzubringen. Mit einem alten DDR-Luftgewehr in seinem schönen Bungalow. In der Gartensparte gibt es jetzt darüber viel Gerede. Jeder hat eine Idee zu einem möglichen Motiv.
Als man ihn zwar leicht verletzt aber schwer besoffen auffand, hatte er den matt-silbrigen Lauf, den Kolben, noch in der linken Hand. Der ganze Bungalow war voller Nacktfotos! Große, blonde Frauen mit riesigen Brüsten. Verblichene Poster aus einer Zeit, als noch viele Haare zwischen den Schenkeln wuchsen. Um die Tomaten hat er sich allerdings nicht ausreichend gekümmert, die Triebe waren schlecht geschnitten. Wenig erträglich. Wie sein Leben. Zweimal geschieden, die Kinder Birgit, Petra und Mario längst aus dem Haus und in alle Himmelsrichtungen verteilt. Klägliche Rente nach Jahrzehnten auf dem Bau. Angefangen zu Saufen.
Sonst gibt es kaum noch was Neues zu berichten. Der Sänger und Schauspieler Manfred Krug ist gestorben, Otto Möhwald aus Halle an der Saale ebenso. Otto war Künstler und regional bekannt. Ist außerdem der Opa von dem Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer gewesen. Das wissen viele gar nicht, obwohl es regelmäßig in der Zeitung gestanden hat. Und Manfred hat Schallplatten verkauft mit guter Musik. Als Darsteller im "Spur der Steine" fanden wir den gut, als Werbefritze für die Telekom-Aktie weniger.
Vorige Woche gab es an unserer Ortseinfahrt einen beachtlichen Unfall. Zwei Krankenwagen und zwei Streifenwagen waren schnell an Ort und Stelle. Mein Fahrrad habe ich vorbei geschoben - konnte allerdings nicht viel sehen. Ein Opel lag im Graben und ein Mercedes stand quer auf der nassen Straße. Es war ja auch sehr glatt ... viel Regen, viel Wind und alles voller Blätter und Zweige. Das geht dann schnell. Ein großer Stau entstand. Das wichtigste ist die Gesundheit.
Morgen muss ich was im Vorgarten machen. Meine Nachbarn haben außerdem ihre Mülltonnen vorsorglich an die Straße gestellt. Die Abfuhr kommt immer sehr früh. Schon sind wieder zwei Wochen vorüber, als wären es nur drei Tage gewesen. Bei uns gegenüber hält jetzt immer ein Pflegedienst mit so einem kleinen Auto. Immer Freitags steigt dort eine pummelige Frau aus. Strammer Po. Die gefällt mir und ich linse hin und wieder durch die Gardine. Irgendwie gemütlich, so ein molliger, warmer und weicher Körper. Die weiße, reine Stoffhose sitzt wie angegossen.
Na ja ... jedenfalls entdeckte ich heute die wirklich aller letzte Obstfliege. Aus einem blauen Himmel heraus fiel sie in den knisternden Schaum meines Nachmittag-Bieres. Lange habe ich sie beobachtet. Zuerst Schockstarre, danach verzweifeltes Strampeln. Einmal drückte ich sie ganz sachte mit meinem kleinen Finger gut und gern einen Zentimeter unter die Oberfläche. Etwa eine Sekunde lang. Danach hob ich sie mit dem gleichen Finger vorsichtig aus dem bauchigen Glas und legte das triefend nasse Geschöpf auf den gebeizten Holztisch. Die winzigen Flügel hingen matt zur Seite und erst nach einer längeren Wartezeit kroch sie Millimeter für Millimeter voran. Sie lebte und ich hatte sie gerettet. Die vermutlich aller letzte Obstfliege am 30. Oktobertag des Jahres. Sie wird dankbar sein, voller Glück. Dabei dache sie zunächst sie müsse sterben. Ewig lange unter dem Bier und doch von Menschenhand mit großer Gnade gesegnet. An einem ihrer letzten Tage, so kurz vorm Erfrieren inmitten eines frostigen Morgens. Das steht ihr nun noch bevor - die Dunkelheit, die Kälte und vor allem die Einsamkeit. Schließlich ist sie die letzte Obstfliege. Für einen Augenblick kam ihr der Tod durch Ersaufen, inmitten eines bitteren, sauren Sees, doch wesentlich unbeschwerter vor. Zumal im vollsten Rausch.
Selbst einer nahezu unscheinbaren Obstfliege kann ich es nicht recht machen. Das passt zu meinem Leben. Hätte es das früher schon gegeben ... ich hätte mich geritzt und die Termine beim Psychologen genossen. Sehr gute Zuhörer sind die.
Bei Karin gibt es Pferdeäpfel zum Düngen. Eine Schubkarre voll für 15 Euro. Außerdem Hausgeschlachtetes wie Rotwurst und grobe Leberwurst in großen Gläsern. Karin war auch mal eine Zeit lang mit dem anfangs erwähntem Herbert zusammen. Die beiden hat man oft des Nachts die ganze Dorfstraße hoch brüllen hören. Entweder beim Sex oder im Streit. Allerdings war das nicht auseinanderzuhalten. Irgendwann hatte Karin dann einen Farbigen aus Mosambik ... reichlich zwei Meter groß. Das Gerede im Ort! Viel mehr als bei Herberts Selbstmord-Versuch. Schließlich kommen seltener Farbige in unseren Ort, als dass sich wieder mal einer an seiner DDR-Wohnzimmer-Lampe aufhängt. Immer Männer übrigens. Sowohl die Toten als auch farbige Liebhaber.
Die Obstfliege ist dann doch noch an den Folgen ihres übermäßigen Bierkonsum verschieden. Still und heimlich an der abgerundeten Tischkante. Keinerlei Bewegung war mehr zu entdecken. Die große Leselupe brachte auch keine neuen Erkenntnisse über ihren Gesundheitszustand. Sie war schlicht gesagt tot. Ob ersoffen, erstickt oder an der Jahreszeit verreckt - das ist zu dieser Stunde ungeklärt. Was aber macht man mit solch einem bedauernswerten Individuum? Achtlos liegen lassen bis der nächste Tischlappen die Kanten säubert? Sich mit einem Zeremoniell lächerlich machen? Den Daumen drauf setzen und drehen, bis nichts mehr zu erkennen ist? Wie oft beschäftigen wir uns mit solchen Fragen?
Die großformatigen Drucke an Herberts Bungalow-Wänden haben mich damals immer etwas scharf gemacht. Im Bauch entstand ein seltsamer Kitzel, wenn ich vorsichtig und intensiv zugleich auf die viele Haut stierte. Für Herbert waren das immer Ikonen, ein unsichtbarer Besitzt des Unerreichbarem. Frauen so freizügig und scheinbar ungeniert, Frauen so voll von gesegneter Pracht und Fülle, keck, frech und kess in die Kamera blickend, als seien sie die Antwort auf alle Sehnsüchte und jeden ungeklärten Traum von Liebe und Lust. Herbert hatte davon reichlich gesammelt.
Etwas Blut war auf den Boden gelaufen. Es roch ekelhaft nach Schnaps. Am Gartenzaun standen die Dietrichs, das Ehepaar Sennelhäuser und die dünne Marekscha. Kopfschüttelnd und mit diesem Immer-schon-gewusst-Blick. Herbert stieg sogar selbst in den Krankenwagen und man hörte ihn auch von dort drinnen noch dumpfe Sauereien rufen.
Seit dieser Woche liegen bei uns in der Straße keine Werbungen mehr. Die Katze von Lena hinkt seit dem überraschenden Sprung vom Erker und aus dem Moped von Dirk tropft und sickert seit zwei Tagen unablässig das Öl in die Zwischenräume des Kopfsteinpflasters. Die Busse fahren derart überpünktlich, dass ihre Wirkung schlimmer ist wie eine einstündige Verspätung. Sie sind nämlich weg, bevor es die Gelegenheit zum Warten gibt. Jeder macht hier was er will. Diese Zeit muss ich in meinem reifen Alter nicht mehr verstehen. Etwas Arbeit, der Kleingarten, die neue Küche, zwei Biere und ein Schnitzel ist alles was ich brauche. Die wahrscheinlich aller letzte Obstfliege des Jahres ist ähnlich genügsam gewesen und hat sich dann doch in letzter Sekunde im Sturzflug einem Meer aus Bier entgegen geworfen. Vielleicht sollte ich auch mehr riskieren? Etwas verändern? Ein Gelage organisieren? Die Musik lauter drehen? Ein einziges Mal in meinem Leben den Puff aufsuchen? Eine Weihnachtsgans wagen? Vor der Rente kündigen? Die Rotzlöffel aus der Bushaltestelle verjagen? Ohne Fahrschein in die Bahn steigen? Jeden Abend einer Frau einen ausgeben? Endlich einmal wieder im Stehen pinkeln? Mir fällt nichts mehr ein. Wäre mein Leben ein Bild zum Ausmalen ... es gäbe keine Stifte mehr.
Die tote Obstfliege habe ich mit dem rechten Zeigefinger aufgenommen und dann mit dem Daumen von mir weg geschnipst. Sie schoss in hohem Bogen gut und gern drei Meter von mir weg. Ein aller letzter Flug durch die kühl gewordene Luft, die winzigen Flügel nochmals leicht zitternd im Wind, das Köpfchen voraus, die Beinchen hintendrein. Landung und endgültige Vollendung eines unnützen Tages.

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