Sonntag, 14. Dezember 2025

WEM DIE STUNDE SCHLÄGT.



Seit Stunden und Tagen regnet es unaufhaltsam, wie aus einem schweren Teppich hinein in die triefenden, schlammigen Herbstfelder. Eine Wand aus düsterem Grau deckt den Himmel in drei Lagen, alle Farben der Welt ineinander verkeilt, nichts sagend, ohne Lichtblick, überall bis an den äußersten Rand des Horizonts und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus.

Vorsichtig hake ich meinen rechten Zeigefinger unter den silbernen Verschluss der Dose und ziehe ihn gleichmäßig zu mir heran. Neben dem niemals vermeidbaren Knacken zischt die bis dahin gezähmte Kohlensäure wie ein kleiner, tollwütiger Drache und signalisiert Spalt für Spalt die vollständige Inbetriebnahme des Systems. Genüsslich setze ich das weiche Metall an meine Unterlippe und kippe einen ordentlichen Schwall des gut gekühlten Bieres in mich hinein. Im Anschluss öffne ich das Fenster und blicke hinaus in dieses Nichts aus Nässe und finsteren Gebäuden. Nach einem weiteren, kräftigem Zug aus der Dose, breitet sich die Flüssigkeit endgültig in mir aus, dehnt und streckt sich, wühlt sich mit einer seltsamen Wärme in die Blutbahn und lässt den Abend entwickeln und gedeihen.

Vor mir liegen zwei kraftvolle Bücher, dicht gepackt mit einem Konzentrat an Schönheit und Ernsthaftigkeit. Voller Leben, voller Rohheit - angenehm dickflüssige Literatur aus der weiteren Vergangenheit. Wohlig wie eine fette Milch mit einem satten Löffel Honig, geschmeidig, durchdringend und nachhaltig. Es ist ein Zappen zwischen Wladimir Wladimirowitsch Majakowski und Ernest Hemingway - hin und her zwischen spanischem Bürgerkrieg und den Erinnerungen an einen streitbarem, sowjetischen Dichter, welcher seine Kindheit im Georgischen verbrachte. Beide Bücher lösen in mir ein Wohlbefinden aus - vor allem wegen der intensiven Qualität des Geschriebenen. Nahezu euphorisch-glücklich betrachte ich die Seiten und nicht selten beginne ich drei, vier davon wieder von neuem zu lesen.

"Ich hasse Aas und jederlei Kadaver! Ich bete an alles und jedes Leben!"
(Majakowski)

Wie der feine, dichte Nebel eines Wasserfalls geht der Regen weiter hernieder. Vorhang um Vorhang in zehntausendfacher Duplizität reiht sich der Auswurf des Himmels aneinander und belegt alles Horizontale mit kaum zu fassender Feuchtigkeit. Das Wasser fließt überall entlang ... abschüssig um so schneller und geschäftiger. Ehrgeizig und viel zu schnell schießen die Rinnsale zwischen den Durchschlüpfen hindurch, vereinen und verbrüdern sich, bilden riesige Lachen und gieren einem offenem Kellerverschlag entgegen. Es gibt kein Anfang und schon gar kein Ende, nicht heute, nicht mehr an diesem Abend und in dieser Nacht. Die dunklen Mischungen des Himmels vereinen sich mit dem Schwarz der kommenden Leere. Nichts deutet auf ein Ende dieses furchterregenden Niederschlages hin.

"Du verlangst von mir, dass ich die Dinge ernst nehme? Wo du dich gestern Abend so benommen hast? Wo du einen Menschen hättest töten sollen und nicht einen machen? Wo wir gerade den Himmel voller Flugzeuge gesehen haben, in einer Menge, die genügen müsste, um uns alle umzubringen, bis zurück zu unseren Großvätern und bis zu allen ungeborenen Enkeln, einschließlich der Katzen, Ziegen und Wanzen. Flugzeuge, die einen Lärm machen, dass die Milch in den Brüsten deiner Mutter gerinnt, wie sie den Himmel verdunkeln und wie die Löwen brüllen, und da verlangst du von mir, ich soll's ernst nehmen. Ich nehm`s schon viel zu ernst."
(Hemingway)

Ein weiteres Bier durchdringt die Tiefen meines müden Körpers. Schwach und glücklich im Lesen. Mein rechter Arm ist lahm und taub vom Stützen des schweren Kopfes ... Zeile für Zeile tappe und taumele ich durch die Wirren eines Krieges, in welcher die unzähmbare Liebe zwischen zwei jungen, traumatisierten Menschen tatsächlich einen Platz gefunden hat. Und Wladimir Wladimirowitsch Majakowski? Dieser Graphiker, Dramaturg und Dichter der riesenhaften Sowjetunion ... selbstbewusst und deshalb mitunter als arrogant verkannt, brutal, direkt und gleichzeitig sensibel, verletzlich. Ein Mann aus furchtbarster Armut - in ein Elend entlassen, dessen wir uns nur in unseren Alpträumen nähern.

"Mein Vers durchbricht der Jahre hochgetürmten Schutt
und kommt zu euch, gewichtig, handfest, greifbar,
wie Roms von Sklavenhand gefügtes Aquädukt
bis heute steht und Wasser leitet.
Und stosst im Hügelgrab der Bücher ihr im Sand
auch auf das Eisen jener Zeilen,
die ich schaffe,
dann nehmt es prüfend und voll Ehrfurcht in die Hand
wie eine alte, doch noch immer scharfe Waffe."
(152 Majakowski)

So schlittere ich mit all dem Bier, den Büchern mit ihren ungezählten Zeilen, einem tauben Arm, schwerem Kopf und unzähmbaren Regen in den Schlaf hinein. Beide Beine durchgestreckt, die Fußzehen spreizend, mit leichtem Hohlkreuz und die Decke bis ans Kinn. Das Fenster weit geöffnet, den leichten Windzug dankbar empfangend und mit jeglichen Gedanken weitab vom Schuss.
Sollte morgen die Sonne den Tag eröffnen, so lege ich die Bücher in ihr gnädiges Licht und wärme mich an den Seiten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen