Freitag, 19. September 2025

GUDRUN!



Gudrun. Wahnsinnig geworden vom Lesen. Verfressen nach Literatur. Gierig und ohne Maß saugten ihre Glubschaugen die Wörter von den Seiten, Wörter aus einer unendlich scheinenden Suppe von Buchstaben ohne jegliche Würze. Die Bretter ihrer Regale bogen sich bedrohlich unter der Last von preiswerten Klebebindungen oder hochwertigen Festeinbänden. Wie fette, starre Tapeten haftete eine ganze Armee von Romanen, Krimis, Kinderbüchern, Lyrik, Märchen und Geschichten an den Wänden jeglicher Räume. Ohne Väterchen Schwerkraft hätte auch die Unschuld der Zimmerdecken dieser Armada von bunten Buchrücken weichen müssen. Gudrun besaß all die Werke wie Ausgeburten ihres eigenen, finsteren Schoßes. Mit dicklichen Fingern langte sie in die Tiefe dieser Ansammlung und fischte mit gekonntem Griff nach weiterer Nahrung für einen fast platzenden Schädel. Mit den Jahren wuchs ihr Kopf zu einem tumorartigen, verwackelten Abbild eines riesenhaften Kürbisses. Die einst kindlich wirkenden Augen verschwanden unter den Hautlappen der Brauen, das Mündchen spitzte sich zu, ihr Kinn verschwand wie unter einer langsam entstandenen Schneewehe. Die Gefahr ging von den Büchern aus: Zu viel Wissen, zu viel Drama, zu viel Prosa und vor allen Dingen viel zu wenig Schlaf. Wie ein heiliges Gelübde, ganz so, als hätte Gott es ihr befohlen, las sie täglich 11 Bücher und schlief mitunter nur ein, zwei Stunden. Am Rande des Wahnsinns, mit einem Hirn aus reinem Matsch und verhornten Pupillen fand man Gudrun schließlich eines Tages leblos unter einem gebrochenem Regal. Leise pfeifend ging ein flacher Atem aus dem winzigen Schlitz ihrer Lippen hervor. Mit allerlei Mühe wurde sie schließlich in ein städtisches Irrenhaus verfrachtet und verlebte dort die übrigen Reste ihres etwas zu kurz geratenen Lebens. Pausenlos erzählte sie in den weiss gekalkten Hallen ihre gespeicherten Absätze und Zusammenfassungen, ohne eine erkennbare, inhaltliche Linie und mit wälzender Fülle von Haupt- und Nebensätzen. Die übrigen Bewohner bekamen die Raserei, drehten und wendeten sich auf den gefliesten Böden wie Würste auf einem zu heißen Grill. Das Personal mied Gudrun, mied ihrem Stakkato, den Gewehrsalven von Wörtern und ließ sie pflegerisch im Stich. So lag Gudrun eines Tages ohne Herzschlag in einem schmuddligen Bett mit geplatztem Schädel. Aus dem gespaltenem Hinterkopf flossen sämige, aufgeweichte Buchstaben wie kalt gelierte Suppe.

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