Sonntag, 27. April 2025

IM ZIMMER.



Das Hotel hat einen guten Ruf! Sauberkeit ist oberste Priorität. Die Freundlichkeit des Personals ist linear. Alle Abstände jeglichen Mobiliars unterliegen einem strengen geometrischem Prinzip. Der Teppichboden schluckt jedes Geräusch. Der Kunde hat zu jedem Zeitpunkt seines Aufenthalts das wohlige Gefühl, in einem gut temperiertem Kühlschrankwürfel zu leben. Die Zeit gefriert darin zur Leere. Ein riesiges Bild hinter dem Doppelbett an der Wand! Abstrakter Kunststoff, bunt angestrichener Dilettantismus auf zwei Meter mal zwei Meter. Der Blick trifft auf die Oberfläche dieses Wagnisses und prallt im gleichen Augenblick auch schon wieder daran ab. Eine Flasche Wasser geht gratis aufs Haus. Ein angenehmer Aufenthalt ist der sehnliche Wunsch von Betreiber und Personal. Schneeweiße Handtücher mögen bitte mehrmals verwendet werden. Die Minibar reicht kaum für ein mitternächtliches Kummer-Besäufnis und macht den mittellosen Gast nur noch ärmer. Ein Kleiderhaken dreht sich noch leicht weg und touchiert dabei ganz zufällig das spiegelglatte Nussbraun eines eingebauten Kleiderschranks.

Peter liegt neben mir und juckt sich zwischen den Fußzehen. In seiner rechten Hand wiegt sich die schwarze Samsung-Fernbedienung eines mittelgroßen Wand-Fernsehers. Der Bildschirm wechselt Farben, Geräusche und Inhalte. Ein Handballer liegt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Hallenboden, eine Lauchzwiebel wird fein säuberlich geschnitten, der Krieg macht schon wieder Angst und eine Zeichentrickfigur haut einer anderen lustig auf den Kopf. Peter und ich schweben bleiern durch den sterilen Raum - alles ist viel sauberer und aufgeräumter als zu Hause. Eine Seele hat das hier nicht - der feudale Kerker ohne Vergatterung und mit einem offenkundig unbewachtem Fluchtweg. Nur so halte ich es hier aus. Dem Peter ist das egal. Er genießt die Freiheit innerhalb strahlend weißer Bettwäsche, liegt nur im Schlüpfer neben mir und knabbert salzige Erdnüsse. Seine Augen verfolgen das Durcheinander im TV - dabei lächelt er unentwegt in einer Art Seelenruhe. Mir dagegen bleibt die Luft weg. Ein Tag hat achtundvierzig Stunden.

Freitag, 25. April 2025

Warten.



LYMPHOLIFE heißt die zerblätterte Zeitschrift in reichlich A4. Das auskunftsfreudige Patientenmagazin des Vereins Lymphologicum. Liegt hier auf einem sehr niedrigem Beistelltisch. Daneben vereinzelte lose Flyer voller Informationen, Werbepostkarten in Aufstellern aus milchiger Plaste. Der Raum mit kaltem Neonlicht bis in jede Ecke unbarmherzig ausgeleuchtet. Gefliester Boden mit seltsamen Rauten in Türkis, Beige ... die Fugen cremig schwarz vom jahrelangen Wischen. An den weißen Raufaser-Wänden hängen seltsam gerahmte Bilder und Informationen: eine New York City Map neben "Das Handgelenk" und einer Seenlandschaft unter blauem Himmel. Ein Fax rattert mitten hinein ins ständige „Guten Morgen“ von Wartenden und dem leicht mürrischen Personal. Es riecht nach Desinfektion und preiswerten Parfüms, Weichspüler und Tabletten ... pappiger, kreidiger Muff. Es ist übervoll. Menschen um die Sechzig auf grauem Gestühl, die Beine übereinander geschlagen, vor sich hinstarrend und ausdauernd in Lauerstellung für den nächsten Aufruf. Eine Reklametüte raschelt, das Telefon klingelt, Füße wippen nervös, eine Handgelenktasche baumelt lasziv im Freien ... zwölf Menschen in etwa 30 Quadratmetern. Ein Pärchen tuschelt und vergleicht die Uhrzeit. Frau Reuter darf jetzt ins Zimmer Vier. Draußen dämmert es langsam, eine Straßenbahn dröhnt direkt am Fenster vorüber, Hackenschuhe klappern, die Beine eines Stuhles kreischen beim Verrücken auf, zwei dickliche Finger zoomen am Display eines leuchtenden Funktelefons. Es herrscht andächtige Stille neben den üblichem Grundrauschen einer Praxis. Eine uralte Patienteninformation - fest geflanscht mit welligem Tesafilm, vergilbte Mitteilung an vergilbte Menschenkinder. Immer wieder schnurrt die Fax-Maschine, andauernd kommen knarzende Durchsagen aus einem hölzernen Lautsprecher über der Tür: „Frau Henze in den Behandlungsraum Drei bitte“ - in die Zimmer Eins und Zwei verteilen sich der Herr Wilhelm und die Frau Rößler. Guten Tag und Auf Wiedersehen während die Zeit läuft und läuft. Jeder sitzt sich hier in aller Stille einsam, dabei klebt doch alles dicht an dicht und wartet und wartet. Mitunter auf schlechte Nachrichten - und aus stumpfsinnigen Gesichtern tritt die Gleichgültigkeit hinüber zu Enttäuschung oder einem elementarem Ausdruck frisch verliehener Schockstarre. Es riecht plötzlich auch nach Kaffee.

Dienstag, 22. April 2025

LAVA



Zu viel Wind um nichts, zu viel Salz in der Speise, zu viel Zucker in der Blutbahn, zu viel Wasser in den Augen, zu viel Gewicht im Wort, zu viele Details beim Wissen, zu viel Fett am Leib, zu viel Geschrei in der Fußgängerzone, zu viel Tadel in der Schule, zu viel Kummer allerorten, zu viel Adrenalin in der Wut, zu viel Interesse an der Dummheit und zu viele Steine in den Mauern.

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Mein Herz krampft sich zu einem schmerzenden Knäuel zusammen. Am Himmel ziehen massenweise Vögel die hier eigentlich noch nie zu sehen waren ... es gibt urplötzlich keinen einzigen Gedanken mehr, der sich nicht um dich drehen würde. Schwarzer Asphalt überdeckt gewissenhaft die Lebendigkeit, tonnenschweres Blut kriecht durch alte verästelte Adern - wie zähflüssige Lava ohne ein konkretes Ziel.

Das Leben ist mitunter eines der Schwersten.

Samstag, 19. April 2025

Eventuell.



Da liegen sie: die Elenden, Vergessenen, Hinterbliebenen, Verlierer, Süchtigen, Schwerkranken, Bettelarmen, Denunzierten, Zerstörten, Verlorenen, Belächelten, Konsternierten und hoffnungslosen Fälle! Vehement bei Seite geschoben und erbrochen wie Ungenießbares - ein weiter Bogen drum herum verhindert möglichen Kontakt mit dem Gestank von verschmiertem Kot, geronnenem Blut, stechendem Dunst aus abgestandenem Schweiß, Alkohol und feuchter Wäsche. In den unpassendsten Momenten erscheinen diese armseligen Gestalten wie aus dem Nichts und fordern die funktionale Gesellschaft mit ihrem schaurigen Anblick heraus ... vor hübschen Lokalen, bunten Supermärkten, pompösen Banken, offenen Kirchen, feierlichen Plätzen oder gut gefüllten Boulevards. Für eine Moralpredigt ist jetzt jedenfalls keine Zeit. Vielleicht fasst mal einer mit an oder ruft laut um Hilfe? Wie steht es mit meiner eigenen Courage - bevor ich das ganz Große in die Verantwortung erhebe? Weiche ich vor den Dramen oder lege ich mich besänftigend neben die Traurigkeit? Im Spiegel entsteht ein Bild von mir: ICH. Aus mir ganz allein heraus entstehen Veränderungen - wenn ich das möchte und die Kraft dafür aufbringen kann. Es muss doch etwas geben was uns alle miteinander versöhnt!

Dienstag, 15. April 2025

Moll.



Die sitzen viel zu oft und viel zu traurig auf viel zu großen Garnituren. Alte Männer. Manchmal gelingt es ihnen tagelang gar nicht, sich aus dieser schwermütigen Haltung zu befreien. Dann wiederum stehen sie vor viel zu ehrlichen Spiegeln und sehen all das offenkundige Grau, die feinen Furchen und bräunliche Flecken. Sie hören wie ihr müdes schwaches Herz verzweifelt um Beachtung klopft und es entgeht ihnen nicht, dass der eigene Mundgeruch wahrscheinlich schon wieder der Schlimmste zu sein scheint. Eine angenehme Situation ist das nicht und so kommt es wohl auch dazu, dass allerlei Salben, Medikamente, Duftwässerchen sowie spezielle Zahnpasten die sanitären Ablagen zieren. Alte Männer retuschieren sich mittlerweile sehr verzweifelt. Es ist auch ein Jammer, sie beim Gehen oder Treppensteigen zu sehen - die Leichtigkeit ist einfach dahin und fast scheint es so, als gäbe die Erdanziehungskraft ihre Boshaftigkeit einfach so her. Diese Mannsbilder werden kaum noch beachtet - weder von zuckersüßen Studentinnen noch von drallen Verkäuferinnen. Stattdessen entsteht eine lustlose Leere, ein andauerndes Darben und Bedauern. Das Lecken von Wunden wird dabei eine Art Spezial-Hobby und so betonen die vielen alten Männer auch in einer Tour, dass sie sich in einer schrecklichen Midlife-Crises befänden. Was für eine Bezeichnung! Klanglich noch sehr harmonisch-englisch und vielleicht sogar modern, letztlich aber nur die flackernde Leuchtschrift über einem Fluchtweg. Alte Männer tragen ihr Selbstmitleid wie einen langen und sehr gepflegten Mantel mit sich herum. Urplötzlich kaufen und ersteigern sich diese Traurigen scheinbare tröstliche Erinnerungen an bessere Tage ... Modellautos, Oldtimer, Füllfederhalter, Turnschuhe, Parfüm, Schallplatten und weiß der Geier was diese Wehleidigen noch so alles für ihre Streicheleinheiten benötigen.

Tja. Da liegen sie - machen schon wieder Mittagsruhe oder starren ins Leere. Kratzen sich unverhohlen an Kinn, Rücken oder richten unbedacht naiv ihr Geschlecht. Wunderliche Gestalten die urplötzlich alles in Frage stellen. Ein einziges Trauerspiel in Moll.

Samstag, 12. April 2025

Der Sommer (oder der Mensch).



Der Sommer versucht davon zu kommen. Er versammelt hunderte Schwalben um seinen Schurz und nimmt bereits die Ferne ins Visier. Da und dort bewegt sich noch vereinzelt Wärme zwischen den raschelnden Baumkronen oder es zieht ein lauschiger Windzug um die ausgeblichenen Fassaden der Häuser. Ein letzter Gruß, ein liebevolles Winken und Verbeugen vor den Tatsachen des Lebens - der Sommer wird sich höchstens noch einmal umdrehen um dann endgültig das Weite zu suchen. So verklingen zarte Gläser unter orangenen Schirmen, werden Tischdecken gerafft und Klappstühle im Schuppen wegsortiert. Drängelnd schiebt sich der Mensch in die lauen Strahlen eines schwindenden Lichtes. Plötzlich bekommt der kümmerliche Rest einer kaum noch begreifbaren Hitze ihre melancholische Wertschätzung. Es schwinden die Pigmente auf trostlos hängenden Schultern. Die gute Sonne mag sich nur noch mit halber Kraft und wenig Enthusiasmus um die Begehrlichkeiten im Da und Dort bemühen. Sie hat anderes vor, blinzelt entgegengesetzt zur Sehnsucht und schiebt ihren breiten Hintern in eine andere Richtung. Es ist soweit.

Peterle schiebt sich die Hände in beide Hosentaschen und setzt einen sowohl maskenhaften wie auch kritischen Blick auf. So steht er schließlich etwas herausfordernd vor mir, unverrückbar, einer Wachsfigur gleich und nimmt sich das Recht einfach so zu schweigen. Das verunsichert mich sehr. Hinter seiner engen Stirn ist wenig Raum für Leichtigkeit - und Gründe dafür böse zu sein hat er genug. Die Oberlippe verrät plötzlich ein sehr leichtes Zittern - bei genauerem Hinsehen zuckt sogar seine linke Augenbraue ... schleicht sich da ein verschmitztes Lachen in Richtung Kropf? Etwas an meiner vorsichtigen Hoffnung ist untrüglich ... denn ich kenne den Peter und seine unverkennbare Art, andere aufs Glatteis zu führen. So komme ich jedes Mal ins Schlittern. In meiner leeren Badewanne windet sich hilflos ein Silberfischchen. Mein rechter Daumen spielt Gott und quetscht das zierliche Lebewesen zu Tode. Der Mensch nun wieder.

Dienstag, 8. April 2025

3 Unfälle.



I

Das stählerne Beil mit dem langen Schaft diente der brachialen unabänderlichen Spaltung von widerspenstigem Holz. Wilhelm holte mächtig weit aus und übersah dabei die gespannte Wäscheleine hinter seinem zähen muskulösen Rücken. Und so federte/schnellte das scharfe Ungetüm völlig unkontrolliert wie schlagartig in Richtung Hinterkopf und ließ die Schädeldecke aufplatzen.

II

Das bestialische Kreischen der Kreissäge, mit ihrem ungesichertem Sägeblatt, übertönte jegliche Nebengeräusche eines spätsommerlichen Nachmittages im September 1984. Rüdiger hatte nach einem fettreichen Mahl zur Flasche gegriffen und den brennenden Schnaps reichlich in seine Blutbahn gekippt. Leicht kirre und etwas müde vom Licht der Sonne, klappte er schließlich leicht vornüber und frisierte sich ein für allemal das spärliche Haupthaar.

III

Jens stand urplötzlich lichterloh in einem Meer aus Flammen und wähnte sich für schockierend lange Sekunden im falschen Film. Vier Berner Würste, acht Nackensteaks, drei Grillkäse sowie fünf Schaschlik-Spieße hatte er bereits zur großen Freude seiner lieben Gäste ausgeben können. Der Sicherheits-Grillanzünder bedurfte jedoch einer fachmännischeren Handhabung, als dies die kleine und unerfahrene - aber hilfsbereite - Ines gewährleisten konnte.

Samstag, 5. April 2025

TRIP



 ... und dann wurde mir schlecht - noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich so etwas gesehen! In meinem Kopf lagerte von einer Sekunde zur nächsten ein scharfkantiges metallenes Dreieck aus sich ständig wechselnden Gedanken. Von A nach B zu C - vor und zurück, teilweise auch quer durcheinander und schließlich eine viel zu helle Nacht raubend. Dabei wälzte ich mich wie ein schlachtreifes Vieh im Bett umher, starrte auf die rauen Fasern der Tapete, verband imaginäre Linien miteinander, zerstreute mich unter aller größtem Druck in lapidare Ideen hinein ... dachte an große, starke und schöne Frauen, richtete mich auf und spürte wie die Säure aus meinem angerauten Magen rasant aufstieg. Die Tatsachen und logischen Zusammenhänge verbündeten sich auf widerliche unverrückbare Weise zu einem Moment reinen Horrors. Meister Mond glänzte dazu auf quälerische Art und Weise, beleckte selbst die dunkelsten Ecken des Zimmers mit greller Kälte. Viele viele Minuten saß ich aufrecht und bändigte mit Ach und Krach den Reiz des Erbrechens, unterdrückte das die bittere Brühe in hohem Bogen aus mir heraus schoss, einem bösen Dämonen gleich - doch was sollte all der Dreck in meinem Körper? Zu viel der gesammelten Idiotien, zu viele verzerrte Geschichten und vor allem viel zu viel Ungutes aus der Verschwiegenheit.

Minuten später eierte ich etwas ziellos durch die Straße der mittelgroßen Stadt an den Felsen. Plötzlich platzte kirre Euphorie aus mir heraus, ein wärmender Hauch sanften Glückes und beruhigenden Friedens. Im All winkten mir die Sterne mit ihren kleinen Lichtern zu - da sah ich mich mehrmals um, drehte den Kopf nach allen Seiten, hüpfte auf glitzernden Gehweg-Platten herum und machte mich schließlich auf den endgültigen Ziellauf zu meinem Freund Peter. Er würde mir die Tür öffnen. Sein mürrisches Gesicht dürfte dennoch nicht sehr einladend auf mich wirken. Der lapidar über die Schultern gelegte Bademantel roch immer nach staubigen Teppichen, feuchtem Moos, leichtem Tabak und süßlicher Butter. Sein Ding baumelte völlig teilnahmslos vorne rum, das massive Brusthaar quoll wie aus einem aufgeplatztem Stofftier und aus den dunklen Grube seines Mundes entwich tiefster Schlaf und scharfer Fusel als eine Art abwehrender Vorsicht. Er würde mich einlassen und mir einen Platz anbieten. Sein verlottertes Wohnzimmer bot sich dafür an wie eine lausige aber nicht treulose Bekanntschaft.

Dann rauchten wir hemmungslos an zwei Schachteln Marlboro, kippten neben einfachen Schnäpsen auch einige Herren-Gedecke (Peter verstand zu feiern) und hörten David Bowies „Blackstar“ von 2016 insgesamt sieben mal am Stück. Uns stand der Sinn nach Zerstreutheit und Kummer, nach Ruhe und Krach in Einem, nach Heulen, Lachen, nach Vermissen und Finden. Wir waren dumm vor Selbstmitleid und wechselten uns gegen Morgen mit dem Kotzen ab. Schließlich lagen wir einträchtig und süß wie duftende Babys, Rücken an Rücken in dem schludrig bezogenem Ehebett Peters ... furzten, schnarchten, wälzten uns blindlings herum, schlugen mit den Ellenbogen aufeinander ein oder traten uns unabsichtlich in die aufgedunsenen Bäuche. Draußen hockten die ersten mürrischen Triebfahrzeugführer in ihren federnden Sitzen und rasselten um die Kurve zum Stadtbad hinüber - uns ficht das jedoch überhaupt denn wir schlummerten den Schlaf der Gerechten und träumten von großartigen Frauen in einem Hauch von weißer Spitzenwäsche aus den Siebzigern. Darin waren wir uns immer einig.

„Komm mir nicht zu nahe, sonst schlage ich dir den Unterkiefer aus der anatomischen Verankerung“! Peter schrie in seinem Schlaf laut auf und hieb mir mit seiner rechten Faust direkt in die linke Augenhöhle. Wir rauften miteinander ohne von unserem Gegner zu wissen, droschen aufeinander ein und nannten uns unter anderem „schwule Holzböcke“ oder „Wichser“ und „Schweine“ ... der übliche despektierliche Kram im Affekt ohne Rücksicht auf Herkunft oder gar persönliche Befindlichkeiten. Wir hatten einander noch gar nicht richtig vorgestellt. Irgendwann wachten wir aus einer Art Aggro-Koma endlich wieder auf, huldigten unsere jahrelange Freundschaft, schworen unendliche Treue und schliefen schließlich bis zum Nachmittag hin wieder ein. Der Raum sah nicht gut aus. Wir sind einmal mehr zu weit gegangen - beziehungsweise über uns hinaus gewachsen. Die Dresche ließ uns aufheulen, schreien und zog uns am Ende in eine wunderbare Trance hinein. Wir hatten alles gegeben.

Mittwoch, 2. April 2025

LETZTE HAND.



Die alte Rinde schälte sich über Monate vom Kern des Baumes. Viele kleine und größere Einschläge am Stamm, künden von der Beharrlichkeit und nimmermüden Gier des Spechtes. Wenn sich ganz oben im toten Wipfel die starren leblosen Äste berühren, bewogen von einem aufdringlichem Wind, dann erinnern die entstehenden Geräusche an das gläserne Klirren von Väterchen Frost.

Meine beiden Hände packen den Spaten an seinem langen Hals. Viele Kubikmeter fruchtbarer Erde gilt es heute umzugraben. Eine fettleibige Wolke brüstet sich über mir mit ihren bedrohlichen Farben aus sehr dunklem, fast schön schwärzlichem Blau, möchte am liebsten und auf der Stelle auf mich herabfallen. Stürmisch verschieben sich jedoch die Fronten und ich muss nichts mehr befürchten.

Der protzige Sanddorn strahlt aus tausenden orangenen Früchten gegen alles was sich noch mit Grüntönen schmückt. Zutschend probiere ich die süßliche Säure, diesen leicht dumpfen eigenartigen Geschmack - das großartige Vitamin möchte bereits jetzt in meinem ausgebeutetem Körper für Ordnung sorgen und appelliert an die Vernunft. Lange Stacheln spießen erbarmungslos die Haut als sei ich Jesus Christus.

Der Schraubverschluss hat sich mit dem Vakuum verbrüdert. Das Wasser für die offene Kochstelle möchte sich also nicht mit dem edlen Kaffeepulver erhitzen lassen. Meine erdigen Hände zittern von der kräftigen Kühle des Morgens. Aus meinem schwer atmenden Mund haucht unaufhörlich sichtbarer Atem, verdünnisiert sich aber gleich bis zum nächsten Zug. Die leicht schwarzen, gut gemahlenen Bohnen aus Jamaica duften wunderbar in meine Nüstern hinein.

Vor mir liegt die Ebene aus all den Gräsern eines viel zu erhitzten Sommers. Durch den Schatten von Meister Ahorn und seinen gutmütigen Gehilfen, konnte so manches noch überleben. Ein kleines, längst verlassenes Nest hängt etwas windschief in kräftigen Halmen. Die liebliche, zuweilen sehr lautstarke ausdauernde Nachtigall dürfte hier einmal Platz genommen haben. Vorsichtig streichle ich ihr sorgsam errichtetes Gebäude.

Beim ständigen Bücken, Graben und Umwerfen des Humus kommen mir die zahlreichen Gänge von Feldmaus und Feldhamster entgegen. Das nehme ich ohne Skepsis wahr, kann mit all dem Getier koexistieren und mich glücklicherweise daran erfreuen. Der Rücken des alten Mannes protestiert bereits verhalten ... es tropfen glasige Perlen von der Stirn und fast erstarrte Finger spüren kaum noch den Stich des Spatens.

Was kann mich noch alles berühren? Unter mir liegen keine Fallen. Jede einzelne Sekunde hier draußen kommt ohne Kleingedrucktes aus. Das Leben in der kleinen Natürlichkeit, eingebettet in einem Acker, Wald, Wiese und Sumpf, kommt mir mit weit geöffneten Armen freudig entgegen! Der alte Klappstuhl beherbergt meinen erschöpften Körper und lässt beide Beine weit gestreckt in den tauben Brennnesseln versinken. Zaghaft wärmt mir die aufkommende Sonne den Brustkorb.