Mittwoch, 19. November 2025

VON LIEBE LEBEN.



Die Weite des Himmels, gleichmäßig lasiert in frischem Blau, öffnet sich den schweren Gedanken und nimmt diese schließlich so sanft wie möglich in Empfang. Unübersichtlich breitet sich die ganze Größe über unseren Köpfen aus, verkleinert das Dasein und lässt alles einfach so liegen.

Liebe ist erst einmal relativ vorrätig da. Nicht so flächig und überdimensional wie unser Himmel zwar - aber doch immerhin auffindbar. Wenn sie gesucht werden sollte. Oder aber wenn man von ihr abgibt. Sie versteckt sich nicht. Die Liebe hat es dennoch nicht nötig, unter Wert zu verteilt zu werden.

Für Peter waren die berühmten fünf Buchstaben immer etwas Schwergewichtiges. Er sehnte sich zunehmend nach diesem Zustand, ohne ihn ganz konkret für sich beschreiben zu können. War das nun ein Schauer auf der Haut? Wummerndes Herzklopfen? Eine Art wohliger Sicherheit?

Wie klein der Mensch doch ist! Entfernen wir uns doch einmal selbst aus unserer sogenannten Mitte und überspringen jede Form logischen Denkens - was bliebe von uns, das wichtiger wäre als jede noch so kleine Pflanze oder der Floh unterm Fell? Ja natürlich, die Liebe! Sprechen wir es ruhig aus!

Peter ist der Krieg zuwider. Dieses Getue auf den Feldern und zwischen wankenden Häusern stellt für ihn die Primitivität des Menschen ins Zentrum ihrer Schöpfung. Und es ist so typisch, dem lieben Gott alles in die Schuhe zu schieben. Schuld wird immer auf ohnmächtige Wehrlosigkeit verteilt.

Die Stille ist ein hohes Gut. Denn nur in ihr heben sich die liebevollen Geräusche auf eine sehr wertvolle Weise hervor: der vorsichtige Kuss, eine wärmende Atmung, das Streicheln einer faltigen Hand, der Hauch des Gedankens - Detonationen benötigt nur der Unbill für seine schamlosen Ansprüche.

Peter schüttelt den Kopf, fast könnte man meinen, er habe wie immer etwas dagegen einzuwenden. Er mag nicht pathetisch werden, benutzt lieber die Handläufe der Realitäten. Diesmal meint er es aber ganz anders. Das bestätigt er mir glaubhaft. Über ihm zeigen sich die allerersten Schwalben des Jahres.

„Was soll nur aus uns werden?“ 

Freitag, 14. November 2025

PROCEDERE.



Die alte Rinde schält sich über Monate vom Kern des Baumes. Viele kleine und größere Einschläge am Stamm, künden von der Beharrlichkeit und nimmermüden Gier des Spechtes. Wenn sich ganz oben im toten Wipfel die starren leblosen Äste berühren, bewogen von einem aufdringlichem Wind, dann erinnern die entstehenden Geräusche an das gläserne Klirren von Väterchen Frost.

Meine beiden Hände packen den Spaten an seinem langen Hals. Viele Kubikmeter fruchtbarer Erde gilt es heute umzugraben. Eine fettleibige Wolke brüstet sich über mir mit ihren bedrohlichen Farben aus sehr dunklem, fast schön schwärzlichem Blau, möchte am liebsten und auf der Stelle auf mich herabfallen. Stürmisch verschieben sich jedoch die Fronten und ich muss nichts mehr befürchten.

Der protzige Sanddorn strahlt aus tausenden orangenen Früchten gegen alles was sich noch mit Grüntönen schmückt. Zutschend probiere ich die süßliche Säure, diesen leicht dumpfen eigenartigen Geschmack - das großartige Vitamin möchte bereits jetzt in meinem ausgebeutetem Körper für Ordnung sorgen und appelliert an die Vernunft. Lange Stacheln spießen erbarmungslos die Haut als sei ich Jesus Christus.

Der Schraubverschluss hat sich mit dem Vakuum verbrüdert. Das Wasser für die offene Kochstelle möchte sich also nicht mit dem edlen Kaffeepulver erhitzen lassen. Meine erdigen Hände zittern von der kräftigen Kühle des Morgens. Aus meinem schwer atmenden Mund haucht unaufhörlich sichtbarer Atem, verdünnisiert sich aber gleich bis zum nächsten Zug. Die leicht schwarzen, gut gemahlenen Bohnen aus Jamaica duften wunderbar in meine Nüstern hinein.

Vor mir liegt die Ebene aus all den Gräsern eines viel zu erhitzten Sommers. Durch den Schatten von Meister Ahorn und seinen gutmütigen Gehilfen, konnte so manches noch überleben. Ein kleines, längst verlassenes Nest hängt etwas windschief in kräftigen Halmen. Die liebliche, zuweilen sehr lautstarke ausdauernde Nachtigall dürfte hier einmal Platz genommen haben. Vorsichtig streichle ich ihr sorgsam errichtetes Gebäude.

Beim ständigen Bücken, Graben und Umwerfen des Humus kommen mir die zahlreichen Gänge von Feldmaus und Feldhamster entgegen. Das nehme ich ohne Skepsis wahr, kann mit all dem Getier koexistieren und mich glücklicherweise daran erfreuen. Der Rücken des alten Mannes protestiert bereits verhalten ... es tropfen glasige Perlen von der Stirn und fast erstarrten Fingern spüren kaum noch den Stich des Spatens.

Was kann mich noch alles berühren? Unter mir liegen keine Fallen. Jede einzelne Sekunde hier draußen kommt ohne Kleingedrucktes aus. Das Leben in der kleinen Natürlichkeit, eingebettet in einem Acker, Wald, Wiese und Sumpf, kommt mir mit weit geöffneten Armen freudig entgegen! Der alte Klappstuhl beherbergt meinen erschöpften Körper und lässt beide Beine weit gestreckt in den tauben Brennnesseln versinken. Zaghaft wärmt mir die aufkommende Sonne den Brustkorb.

Sonntag, 9. November 2025

FILETS.



Seit über 20 Jahren arbeitet Steffen in einer ausgezeichnet geführten Suppenküche. Seit über 20 Jahren hat Steffen dabei so eine Art „Ritual“ oder „Aberglaube“: Er rotzt tagtäglich einmal in jeden Topf.

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Christa ist süchtig nach salzigen Heringen. Das ist eine Art Süßigkeit aus Lakritz. Am Abend kommt sie auf zwei bis drei Tüten täglich und kämpft mit ihrem Blutdruck. Am nächsten Morgen schließt sie auf dem Klo für lange Zeit die Tür hinter sich.

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Jens klaut. Seine diebischen Hände packen sich übergroße Gegenstände. Das beginnt bei Stühlen im Café und endet mit Kränen auf Baustellen. Er stellt sich gut an- ist bestens organisiert und logistisch nahezu perfekt. Das Diebesgut landet auf dem riesigen Bauernhof seiner Cousine Stefanie.

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Anita leckt alles ab. Seit ihrer frühestens Kindheit streckt sie ihre Zunge weit heraus und streicht damit über jede interessante Oberfläche. Lieblinge sind Raufaser-Tapete, die Blätter von Sonnenblumen, Museumsböden, Sauerkirsch-Eis und strukturierte Umschläge von Schulbüchern.

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Rolf ist Berater. Freiberuflich und mit hohem Honorar. Neben Themen wie Ernährung und Bewegung, begleitet er auch Menschen mit Verstopfung auf die Toilette. Dort tritt er als eine Art Motivator, Coach und Hilfsteller auf. Nach jedem Erfolg gibt es frenetischen Jubel und ein gemeinsames Abklatschen.

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Ingrid strickt unendlich. Was ein langer Schal werden sollte ist nun ein schier unendliches Unikat aus mehreren tausend Metern Wolle. Breite 20 cm und Länge mittlerweile unbekannt. Das macht sie seit 38 Jahren. Jeden Tag ein gutes Stück mehr. Nicht alle Zimmer ihrer Wohnung sind noch betretbar.

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Dieter hat es auf hartnäckige Weise und ohne größere Verletzung geschafft, einen Tunnel von einem Ohrloch zum Nächsten zu schaffen. Die Sonne scheint also hindurch. Der Wind zieht ebenfalls von Öffnung zu Öffnung. Dieter hört aber seitdem nichts mehr.

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Kirsten hat sich einen unterirdischen Harem aufgebaut. Es sind über zwanzig sehr gut erzogene brave Männer. Einer schöner als der andere ... gut gebaut und aus aller Herren Länder. Sie tragen auch durchsichtige Tücher vor dem Gesicht. Das macht Kirsten an. Sie hat viel Geld und leistet sich eben ein klein wenig Luxus.

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Torsten hat leider eine furchtbare und sehr kostspielige Angewohnheit. Er kann seine Wohnung nur dann betreten, wenn ihm der per Telefon gerufene Schlüsseldienst die Tür öffnet. Es ist aufwendig. Manche sprechen von Zwang und Freunde wollten die Situation bereits nachstellen um ihm zu helfen. Das spürt der Torsten aber.

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Niemand hat jemals gemerkt, dass unser Pfarrer Herr Schuster eigentlich gar nicht an Gott glaubt. Er ist ein derart begnadeter Schauspieler, dass ihm diese Rolle bisher jeder abnahm. Der Zweck heiligt die Mittel. Nur Gott selbst knaupelt sich vor Wut die Daumenhaut blutig.

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Ende.

Donnerstag, 6. November 2025

DER TAG WIRD KOMMEN.



Hastige Schritte im Flur des sterilen Hotels. Eine schwere Zimmertür schlägt zu. Der Teppich schluckt was er kann. Als wäre er ein Sinnbild für das Leben. Die Nacht verlief in völligem Dunkel. Finsternis strömte zum geöffneten Fenster herein und würgte meinen gesamten Körper. Das Kopfkissen so groß und hart wie ein Findling ... angewinkeltes Gebein, unkontrolliert gelagerte Arme in jede Richtung - so lag ich wie abgeworfen oder hin gezerrt. Was sollten da schon Träume noch ausrichten können? So flogen also Elfen auf mich herab und leckten an meiner polierten Glatze herum. Mein ständiges Drehen und Wenden, das Aufstöhnen und Ächzen, Gezappel wie Starre setzten mir mit Unendlichkeit zu. Hinter dem meterlangen und betonschwerem Vorhang stand jemand und beobachtete mich unbeweglich. Das wusste ich. Es war ja immer da. Im Nebenzimmer entlud sich eine Seele von Mensch. Deutlich hörte ich seinen Kampf: Pressen und Erleichterung. Die Spülung polterte zweimal. Mir war das zu viel Nähe. Nichts unterschied sich voneinander, immer das Gleiche: Lust, Reibung, Geburt, Fraß, Gedärm, Arbeit und Schlaf. Dazwischen drängen und stapeln sich Hoffnungen, Sehnsüchte und Zweifel. Mit Beginn des Sonnenaufgangs plärrt uns irgendeine Wahrheit an - das Schöne schmeichelt, die Fratzen zeigen sich überdeutlich und der Rest ersäuft im Grau. In dieser, meiner Nacht in diesem aalglatten Hotel möchte mich nichts mehr berühren. Mechanisch betrat ich einen Flur aus völliger Leere. Ja - ich war nackt und vollkommen ausgeliefert ... so begab ich mich ins Treppenhaus eines zwanzig Stockwerke riesigen Klotzes und rannte die Stufen auf und ab. Ganz für mich allein und ohne Unterlass. Danach ging es mir besser und ich brauste meinen Körper mit glühend heißem Wasser bis die Haut zu schrumpeln begann. Der Tag war da.

Montag, 3. November 2025

DER FEHLER.



Die vielen Fehler in einem einzigen Leben. Wie dunkle Perlen auf seidener Schnur schmiegen sie sich aneinander und klagen leise ihr bedauernswertes Lied. Peter wusste wovon er sprach. Er war so gesehen ein Perlentaucher und fischte sich ein Dilemma nach dem anderen. Manchen Menschen fällt das in den Schoß, als sei es eine von Gott verdammte Gabe. Für ihn änderte sich nichts. Die Konsequenzen waren ertragbar, die Strafen klar greifbar und alles miteinander auf furchtsame Weise gerecht. Die Männer in den schwarzen Roben, die Frauen mit dem erhobenen Zeigefinger: Sie alle kamen um ihn zu fangen und für einzelne Teile seines Lebens nicht mehr frei zu lassen.

Eine Zigarette nach der anderen inhalierte er zügig und intensiv in die verkleisterten Lungenflügel hinein und blies den übrigen Rauch mit weltmännischem Blick in die öde Botanik hinaus. Die verschwitzte Kappe lag lose auf dem faltigem Schädel, das Hemd nur zur Hälfte geknöpft, quoll krauses graues Haar von der stattlichen Brust. Die Welt hatte ihre gewohnte Ordnung und einige Tage würde das wohl auch noch so gut gehen. Das war schon immer seine Maxime ... die unbedarft lockere Einstellung zu den Hürden und Höhen des Lebens. Mit dem Zeigefinger schnippte er den aufgerauchten Stummel in Richtung Gas-Therme, eine gute Investition aus dem letzten Winter. Ein kleines Leck erwartete die funkelnde Glut.

Nein - ich kann mich nicht freuen. Es darf kein Mut aufkommen und schon gar keine Zuversicht. Sie verbat sich derartige Gefühle rigoros und schlug sich dabei gedanklich auf die blassen Finger. Seit ihr Mann vor knapp fünf Jahren gestorben war, gönnte sie sich kein Glück und erst recht keine Leichtigkeit. Das Leben erhielt damals einen bitteren Beigeschmack und kniete sich auf schmerzende Beine. Das Leben ergab nur noch dann einen Sinn, wenn sie den Tod mit Buße aufwog. Alles was recht war: aus dieser gräulichen Verbitterung heraus zog sie alles ins Misstrauen und gebot ihrer Umgebung demütige Furcht. Keine noch so schöne Blume konnte Freude spenden, kein aufmunterndes Wort zu Trost verhelfen - die Menschen drehten sich schließlich weg und überließen sie eines lebendigen Todes.

Sonntag, 26. Oktober 2025

GIFT UND GALLE.



"Die saufen, bis es denen aus den Ohren wieder raus schwappt!" Ein gut gealterter Herr läuft eingehängt mit seiner Gattin über die glänzenden Fußwege der bereits abgedunkelten Stadt. Missbilligend fällt sein Blick auf zwei unrasierte Trinker an einem schlecht ausgeleuchteten Eck-Imbiss. Es gefällt ihm nicht, wenn sich die Menschen gehen lassen ... saufen, pöbeln, keinerlei Arbeit verrichten, auf den Bänken lungern, nicht grüßen, den Gehsteig zuparken, Hunde nicht an der Leine führen, die Schaltkästen besprühen, Vorgärten verrotten lassen, die Treppe nicht kehren oder wenn jugendliche Werbemittel-Austräger partout keine Wochenangebote der Discounter in die Treppenhäuser auslegen. Dann zweifelt der hagere, alternde Mann mit der gesellschaftlichen Moral und schimpft so lange, bis ihm der Magen seinen Dienst versagt und grünlich-bittere Galle durch die Speiseröhre empor steigt. Seiner vergesslich gewordenen Frau ist dies einerlei, sie geht diesen Weg mit ihm bis zum Schluss - soweit die Füße sie tragen und solange er sie noch in seinem drahtigen Arm einhenkelt.

Morgen ist der Termin bei der Fußpflege, später die bläuliche Tönung beim Friseur. Brot beim Bäcker ist natürlich bestellt und der Schwatz mit der Briefträgerin längst ein lieb gewonnenes Ritual geworden. Viel passiert in diesem Leben wohl nicht mehr - zumal sich die Zeiten radikal geändert haben. Die übergewichtige, demente Frau neben ihm hat er einmal sehr geliebt ... mit Haut und Haaren. Urlaube auf Usedom, eine Schiffsreise nach Kuba, das erste gemeinsame Auto, ein kleiner Lottogewinn in den Siebzigern, Jubiläen, Betriebsausflüge, runde Geburtstage, Skat-Abende, die politische Wende ... alles mögliche geht ihm durch den Kopf.
Die Zeiten sind wohl vorbei. Das Spiel ist aus. Nichts geht mehr ... auch kein Freiwurf. Lichter in den Fenstern erzeugen keinerlei Gefühl - auch die süßen Kleinen in den modern gestalteten Buggys lassen ihn völlig kalt. Alles was er sieht, ist so seltsam böse mit ihm. Wütend erspäht er die völlig überfüllten Altglas-Container, abschätzig trifft sein harter Blick eine wirklich schöne Frau mit Kopftuch. Deutschland ist ein einziger Haufen stinkenden Drecks geworden, chaotisch regiert, hoch verschuldet und in diesem Leben niemals mehr zu retten. Er erwartet auch nichts mehr, kein Mitgefühl, keine Hilfsbereitschaft - niemanden der ihn noch wahrnimmt. Fast 80 Jahre alt, verheiratet, kinderlos und dabei immer schwer gearbeitet. Natürlich nie geraucht, nie getrunken, keinerlei Schwof, nichts gegönnt und letzten Endes auch alles allein bewerkstelligt. Sein Herz ist ein riesiger, fester Klumpen ... die Hände schon immer etwas zu kalt und der Gang leicht vornüber gebeugt und abgehackt. Seine Frau geht demütig neben ihm her, fast im Gleichschritt. Ihre Augen sind nass und suchen irgendeinen Halt. Sie wird geführt, gelenkt und bleibt in der ihr vertrauten Bahn. Der Kopf muss nichts mehr für sie tun ... hat sich augenscheinlich völlig ausgeklinkt und bereits vorab aus dem Staube gemacht. Alles scheint dadurch vergeben und vergessen.

Ursprünglich sollte der Text an dieser Stelle enden. Es hat aber plötzlich begonnen heftig zu regnen. Die Lichter der Straße spiegeln sich umgehend in der Nässe des Weges, als der alte Herr unvermittelt zu Fall kommt. Auf den Knien landend, losgerissen aus dem laschen Arm seiner Gattin, den irrsinnigen Schmerz spürend. Aus der gegenüber liegenden Apotheke eilt eine junge Frau auf ihn zu, versucht instinktiv unter seine Arme zu greifen und fragt in einem fort ob es so gehe. Da reißt und zerrt der reife Mann an seinem geschlossenen Schirm und haut umständlich auf die Helfende ein. Immer wieder, ohne Kraft und Energie- aber auch ohne Unterlass. Nichts ist verziehen und die Wirklichkeit ein einziger Fausthieb.

Freitag, 24. Oktober 2025

DOPPELLEBEN.



Im schäbigsten Café der Stadt ... mit dem gerissenen rotem Leder des Neunziger-Jahre-Mobiliars und der angetrockneten Pisse auf vergilbten WC-Brillen ... aufgespritzte Lippen bei einer 40+ Bedienung und den jämmerlich angerichteten Eisbechern aus längst erblindetem Glase ... bräunlicher Stuck gezeichnet von unlängst verbotenem Rauch aus den kräftigsten Zigaretten des Planeten ... da hob Peter ein bis zum Rand gefülltes Glas und schüttete es in sein riesiges Kopf-Loch! Soff und bestellte nach. Bestellte und soff. Soviel er konnte und es quollen ihm die einst kleinen Äugelein zu glasigen handgroßen Perlen. Seine Unterlippe konnte die Flüssigkeit kaum noch führen und so troff es immer wieder feucht auf sein burgunderrotes Hemd. Mit den Hemmungen fiel auch die Würde. Von wegen "unantastbar"! Zeit verging - und Zeit kam - bis sie wieder verschwand. Peter klammerte sich an den Drink wie der der halbtote Kapitän am Mast seines schlingernden Schiffes. Die Sache schien entschieden. Im Portemonnaie stapelten sich mächtige Scheine und boten mit ihrer Anwesenheit keinen Einhalt. Die Botox-Kellnerin legte ihre Hand mit den meterlangen wie feuerroten French-Nails auf seine müden Schultern und flüsterte liebevoll irgendwas wie "Was ist denn los mein Guter" in seine stark behaarte Ohrmuschel. 

"Man müsste das Leben panieren können!" 

Peter selbst schien verblüfft über seine spontane Antwort. Als ich mich zu ihm setzte, begann er darüber zu sinnieren und verfing sich ein ums andere mal zwischen Eitelkeit und Selbstmitleid. Es war ja erst 14 Uhr und wir hatten schon mächtig Verluste gemacht. Um uns herum kreisten Aperole und Schwarzwälder Kirschtörtchen mit Eierlikör. Große Busen wohin das Auge reichte! Man hätte die ganz Stadt melken können! Dümmlich blickten wir uns um und verließen uns auf die Vergangenheit. In der Toilette versuchte ich heulend alles voll zu pissen. Ein asoziale dumme Sau die ich einmal war! Worauf kam es jetzt noch an? Dabei stellte ich mir zwei Blöcke Butter vor. Und gerührtes Ei. Und Paniermehl. Vielleicht würde das wirklich helfen? Das Leben eingepackt in Panade und ab damit ins Siedende? Kirre wie ich einmal war strauchelte mein enthemmtes Wesen wieder direkt zu Peters Tisch. Mit einer langen Gerade versuchte ich seine Front zu erwischen - traf aber ins Leere und umarmte ihn stattdessen. Wir beiden waren selbstverliebt in unseren Kummer und schauten fast schon mit Stolz auf unsere Ausweglosigkeit. Schein auf Schein wirbelte auf und versengte mit all dem Schnaps und ungezählten Bieren unsere kindlichen Herzen.      

Sonntag, 19. Oktober 2025

DER KUSS.



Die erste flüchtige Berührung unserer Lippen war schon unangenehm. Der nachfolgend lange, schnalzende Kuss schmeckte nicht und die mit der Zunge um sich schlagende Frau war auch die Falsche. Ihre schlanken Arme klammerten meinen Rücken direkt im Hohlkreuz und ich war mit den Gedanken mitten auf der Flucht. Zwei volle Brüste pressten sich gegen mich, ihr Kiefer malmte wie eine Maschine die nach Öl bohrt. Schlaff und lustlos, zurückhaltend wie frei baumelte meine Zunge in ihrem Mund. Die Zeit wollte dabei nicht vergehen, wie eingefroren stampfte die Situation wütend auf der Stelle und ich besaß nicht den Mut sie zu enttäuschen.

Der Abend bestand aus Erinnerungen und Schnäpsen. Es wurde einiges geraucht und mit jeder Zigarette wurden aus Visionen gelallte Komplimente. Sie hatte Durst nach einem Mann. Mir war nach weiblicher Aufmerksamkeit und ich spielte mit ihren Annäherungsversuchen wie mit einem aufgezogenem Mobilee. Ihre Einladung schlug ich aus. Das ist Jahre her und die Margeriten blühen in einer Art und Weise das mir ganz warm ums Herz wird. Auf meinem Weg tanzen verspielte Schwalben und vertilgen in höchster Geschwindigkeit kleinste Insekten. Weit draußen auf dem goldig gelbem Feld tuckert zwischen wogenden Halmen ein Traktor älteren Modells. Der Staub des späten Abends bittet um Bedenkzeit für seine nächste Ruhestätte ... mir springt das Herz vor Glück gleich völlig entzwei.

Donnerstag, 16. Oktober 2025

RESTE.



Das kleine Mädchen wandelte im Schlaf. Der stumme Mond kramt nervös in seiner länglichen Umhängetasche und suchte sein vergoldetes Opernglas.

Die Muskeln des Mannes erhoben sich langsam und pressten sich gegen die knappen Ärmel eines synthetisch hergestellten Shirts. Es war Mai und bald würden die Schwimmbäder öffnen.

Beide große Zehen spielten übermütig mit dem Rest der Füße, während sich Peter genüsslich eine Kippe drehte und dem Tag mit einem gewissen Frohsinn entgegensah.

An der Straßenbahnhaltestelle humpelt ein Kohlrabe desorientiert zwischen stählernen Gleisen herum. Der rechte Flügel hängt in Fetzen blutig herunter.

Miranda stand stundenlang grübelnd vor dem riesigen Bücherregal. Ein geblümtes Kleid hing in ihrer Po-Ritze fest. Theodor Fontane suchte sie jedenfalls nicht.

Ein Mann mit künstlichem Strohhut zählt die Blüten seiner Rosensträucher. Aus der Küche heraus dampfen Pellkartoffeln und es duftet mehlig warm.

Vielleicht liebten sich beide schon lange so gar nicht mehr. Aber es lohnte keinerlei Mühe mehr, daran etwas zu ändern. Wie immer und ein ganzes liebes Leben lang machten sie das Beste daraus.

Im Altenheim wippen zahllose Köpfe pendelnd einer vergessenen Frage hinterher. Medikamente stehen längst verfallen in den hintersten Ecken lose befestigter Hängeschränke.

Der Weg wollte kein Ende nehmen. Sollte das Leben eine einzige Quälerei sein? Die Brunnen schienen alle ausgetrocknet und der Regen war eine viel zu stolze Diva als das er sich erweichen ließe.

Im Kühlschrank ist ein Wurst aufgeplatzt. Das vergessene Stück Hefe dünstet heftigen Schweißgeruch aus. Eine behaarte Hand langt geschickt nach zwei kalten Flaschenhälsen.

Freitag, 10. Oktober 2025

11 JAHRE.



Unter uns: Elf Jahre hinter polierten Gittern sind nicht eben schmerzfrei. Sören war exakt bei Tag 1 von 4015. Die entsprächen 44 Jahreszeiten. Um es noch genauer und unerträglicher zu formulieren: jetzt waren fünf Stunden um - und 96.355 würden noch verlangsamt, wie in Zeitlupe auf ihn zu und schließlich drüber weg schleichen. Für den jungen Mann mit der ausladenden Hasenscharte und einem verknorpelten Ohr auf der der linken Seite war das eindeutig zu lang. Ihn plagten diverse Zipperlein wie Platzangst, eine hochkomplizierte Spaltung der Persönlichkeit, kleinere Ticks sowie der ständige Drang ejakulieren zu müssen. Elf furchtbar lange Jahre isoliert wie ein Resteessen unter Folie, wie aus der Gesellschaft heraus filetiert und in die Tonne geworfen. Ihm war übel von der eigenen, halb verwesten Zukunft ... diesem Mief aus wandernden Wänden und dem beißendem Geruch seiner ständig schwitzenden Achseln.

Der Richter hatte keine Wahl. Die Geschworenen wiegten sich wie im Reigen zur fast melodisch präsentierten Beweislast ... draußen fiel der Schnee, ein paar Wildgänse nahmen leicht verspätet Reißaus - Sören waren die Hände gebunden, der Mund wie versiegelt, die feuchten Augen ohne Glanz und seine hoffnungslose Haltung schien wie ein zusätzliches Geständnis. Die Schwere des Verbrechens, die Indizien zur Tat, Aussage für Aussage, das hysterische Gebrüll trauernder Menschen ... all das ließ ihn förmlich erstarren. Er glaubte nicht einmal sich selbst. Seine Unschuld erschien ihm wie eine Ausrede, ein infame Lüge gegen all das Geröll der Justiz. Sören gab klein bei. So hat er es immer gehandhabt. Sein Charakter lechzte nach Harmonie und Stille. Die Ruhe auf den Sturm, der Friede unter den Menschen. So verkürzte sich der gesamte Prozess um mehrere Wochen und zur Freude des finalen Tages gab es einen festlichen Richterspruch.

Unschuldig im Knast. Und nur er allein wusste es - gemeinsam mit dem eigentlichen Täter und seinem toten Opfer. Die schmuddlige Videokassette vom Frauenknast kam ihm in den Sinn: „Sirene unter geilen Weibern“ hieß der gut einstündige Porno und verhieß ein paar gemütliche Minuten mit gekrümmten Rücken. Jetzt saß er selbst wie nackt zwischen gekalkten Wänden ohne eine Spur von Trost. Weit und breit keine Weiber und auch keine Pornos. In seiner Fantasie ging er alle Vanessas und Svetlanas noch einmal durch ... geschmeidige Frauen, lüstern, unersättlich und devot. Er glaubte ihnen alles, nahm jede Szene für bare Münze und träumte sich stundenlang in ihre fruchtigen Schöße hinein. Seine Zelle lag vor ihm wie ein offenes Maul ohne Zähne. Sein Herz rutschte schwer nach unten, wummerte ungeduldig gegen die Brust ... so, als wollte es ihm sagen: Lass mich bitte gehen!